Das Phänomen Placebo und seine Bedeutung für die Medizin – Teil 2

Placebo Teil 2
4.8
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Dirk Brandl über den Placebo Effekt

Teil 2 – Ergebnisse der Placeboforschung für die therapeutische Praxis

In Teil 1 haben wir uns damit beschäftigt, dass das therapeutische Setting eine große Bedeutung für Heilungsprozesse hat. Heilberufler, Patient und die therapeutische Situation haben über die Psyche der Patienten Einfluss auf positive (Placebo) oder negative (Nocebo) Heilungsprozesse.

Weitere Ergebnisse der Stellungnahme

Die in der Stellungnahme der Bundesärztekammer verfassten Empfehlungen versuchen, die neuen Erkenntnisse zum Placebo Geschehen zu vermitteln:

„Will man den Gesamt-Nutzen für den Patienten optimieren, so empfiehlt sich:
1. Die Steigerung der Qualität der Arzt-Patient-Interaktion durch folgende Schritte anzustreben:

    • Das Vertrauen des Patienten zu gewinnen. Dies ist für den Arzt zwar „kommunikationsintensiv“, aber zugleich entscheidend.
    • Empathie zu entwickeln, weil sie den Behandlungserfolg positiv beeinflusst. Die Empathie ist die Fähigkeit, die Situation des Patienten nachzuempfinden, dieses zu kommunizieren und auf der Basis des Mitempfindens dem Patienten therapeutisch zu helfen.
    • Fachkompetenz zu kommunizieren. Diese wird glaubwürdig durch Weiter- und Fortbildung, Psychosoziale Kompetenz, (Praxis)-Organisation, Ausstattung und Qualitätsmanagement aufgezeigt.“ (S. 171)

Es ist jedoch an dieser Stelle auf die Tatsache einzugehen, dass augenblicklich unsere gesamte gesellschaftliche Organisation an ihre Grenzen kommt und sich durch beständige verstärkende Rückkopplungsprozesse zunehmend destabilisiert, dass mithin sowohl der Austausch des Heilkundlers als auch des Patienten im gesellschaftlichen Netzwerk gestört wird. Die Entfremdung, die sich durch Marktmechanismen der Konkurrenz gesteuert die ganze Zeit exponentiell entwickelt, macht auch vor der Arzt-Patient Interaktion nicht halt. Der Arzt ist vielfältigen ökonomischen Zwängen unterworfen, die einen Widerspruch zu seiner Arztrolle bilden, die er aber auch nicht einfach verändern kann.

Empathie ist nur dann zu entwickeln, wenn die individuellen, gesellschaftlichen und natürlichen Bedürfnisse von beiden, Arzt und Patient, mit den Anforderungen an die therapeutische Situation kongruent sind, also gleiche Interessen vorliegen. Empathie ist, weil sie auf gefühlsmäßiger Basis existiert, nicht erlernbar, sondern nur erlebbar. Die Anforderungen an den Arzt oder Heilpraktiker sind deshalb so beschaffen, dass zu seiner Aufgabe gehört, einen höheren, mit der Natur und dem Universum in Einklang stehenden Sinn seiner ärztlichen Tätigkeit und Interaktion zu entdecken („seine Verbindung zum Geist stärken“ würde der schamanistische Heiler sagen), allein dies kann zur Erkenntnis der Verbundenheit mit dem Patienten und damit zur Entstehung von Empathie führen trotz entfremdender Bedingungen, die deshalb Solidarität fördern können, weil beide, Arzt und Patient, ihnen gleichermaßen unterworfen sind.

„2. Adäquate Ausfüllung der Rollen von Arzt und Patient
Die Art und Weise, wie Arzt und Patient ihre jeweilige Rolle einnehmen, kann dazu beitragen, jene Faktoren zu fördern, die sich auf die medizinische Intervention auswirken. Je nach Tätigkeitsfeld des Arztes und der Krankheitssituation (z. B. chronische Krankheit, Befindlichkeitsstörungen) ergeben sich hinsichtlich der Relevanz und Bedeutung der Arzt-Patient-Interaktion Unterschiede. Das Paradoxon der Wirksamkeit „unwirksamer“ Maßnahmen bei besonderer Befähigung von Ärzten mit hoher sozialer und kommunikativer Kompetenz ist für naturwissenschaftlich geprägte Mediziner schwer zu akzeptieren, aber existent. Es ergibt sich somit das Risiko, dass übertrieben kritisch auf interne Validität der Stellungnahme „Placebo in der Medizin“ Wirksamkeit fixierte Ärzte den additiven Gewinn durch die unspezifischen Effekte (u. a. des Placeboeffektes) verschenken. Dem ist durch Aus- und Weiterbildung entgegen zu wirken.
Ein partnerschaftlich gestaltetes Arzt-Patient-Verhältnis, auch unter Einbeziehung des
jeweiligen Lebenspartners, hilft den therapeutischen Effekt zu maximieren.“ (S. 171)

Die Psyche des Arztes und des Patienten wirken die ganze Zeit auf die therapeutische Situation ein. Spiegelneuronen sind in der Lage, materielle (biochemische) Prozesse in beiden Körpern auszulösen. Die Tendenz, nicht nur den Patienten, sondern seine Beziehungen in den Heilungsprozess zu integrieren, weist Ähnlichkeiten zum schamanistischen Heilungsprozess auf.

„3. Ausgestaltung des therapeutischen Settings
Für die Optimierung des therapeutischen Settings sind u. a. die Ausgestaltung der Praxis und die Kompetenz sowie die Freundlichkeit des Personals wesentlich.“ (S. 172)

Das therapeutische Setting kann analog zum schamanistischen Heilungsprozess als Aufbau einer ritualisierten Therapiesituation gesehen werden, jedoch unter modernen Bedingungen. Für die Psychoanalyse bestand das therapeutische Setting aus Sofa und Therapeutenstuhl, das freies Assoziieren ermöglichen sollte und stark ritualisiert war. In jeder Ethnie ist jede therapeutische Situation eingebettet in ein therapeutisches Setting, welches die Durchführung ritualisierter Handlungsschemata ermöglicht. Dazu gehört die Ausgestaltung des Ritualraumes ebenso wie die Beteiligung der Gruppe. Das moderne therapeutische Setting ist dem schamanistischen Setting strukturell gleich, obwohl sich seine Erscheinungsformen gewandelt haben. Insofern kann der Heilberufler, indem er sein Setting für ritualisierte Handlungen öffnet, dem therapeutischen Geschehen stärkere Wirkung verleihen.

„4. Verbesserung der verbalen und non-verbalen Kommunikation
Der Therapieerfolg hängt nicht zuletzt vom Kommunikationsverhalten des Arztes ab, dessen Pflege ebenso wie die Anwendung der körperlichen Untersuchung nachdrücklich empfohlen wird. Sprach- und Kulturbarrieren sind so niedrig wie möglich zu halten.
Für die Umsetzung dieser Erkenntnisse spielen die sozioökonomischen, gesundheits- und berufspolitischen Bedingungen sowie die Aus-, Fort- und Weiterbildung eine wichtige Rolle.
Die derzeitigen Voraussetzungen sind nicht optimal.
Man verschenkt einen je nach Krankheitssituation und Persönlichkeit beachtlichen Teil der Behandlungsmöglichkeiten, wenn man das Placebo-Thema in Aus- und Weiterbildung weiterhin vernachlässigt“. (S. 172)

Das gesamte Thema der Kommunikation ist nicht einfach abhandelbar, dazu gibt es zu viele Aspekte dabei zu beachten und es muss deshalb in diesem Artikel vernachlässigt werden. Richtig ist jedoch, dass in jeder therapeutischen Situation die Kommunikation eine mitentscheidende Rolle für den Behandlungserfolg hat.
Viele Verkaufsschulungen für Heilberufler beschäftigen sich mit einfachen Kommunikationsmodellen, die ausschließlich von den Interessen nach z.B. Mehrverkauf von IGL Leistungen gesteuert werden. Diese Art von Schulungen jedoch sind nicht mit Kommunikation gemeint.

Die Ergebnisse der sozialen Intelligenz genannten Gehirnforschung sozialer Interaktion haben gezeigt, dass 2 Gesprächspartner sich in ihren Bewegungen wie bei einem Tanz harmonisieren, dass dieselben Hirnregionen angeregt werden und sogar die Atmung synchronisiert wird. Die in einem kontinuierlichen Prozess entstehenden neuronalen Muster werden über Stoffwechselprozesse in allen Zellen des menschlichen Körpers gespeichert und beeinflussen den Mechanismus der Genexpression und damit das individuelle Verhalten.

Schlussfolgerungen

Ein neues Rollenbild des Mediziners zeichnet der Schriftsteller Noah Gordon in seinem historischen Roman Medicus. In der Gegenüberstellung der Rolle des „Heilers“ und des „Medicus“, die im Verlaufe der Handlung in der Person des Hauptprotagonisten zusammengeführt werden, bildet sich ein neues Rollenmodell heraus. Der Heiler ist definiert durch Intuition und Empathie, die jahrhundertealte Erfahrung von pflanzlichen, tierischen oder anorganischen Wirkstoffen sowie einer Verbindung zu etwas Größerem (dem Geist), die ihn den Krankheitsverlauf vorausahnen lässt. Der Medicus ist der auf dem kartesianischen Dualismus praktizierende Arzt unserer heutigen Welt, der dem Heiler die Kenntnis des Aufbaus des menschlichen Körpers voraushat. Die neuen Herausforderungen der Medizin führen dazu, dass die Zusammenführung dieser beiden Welten, der kartesianischen und der systemischen, in einem neuen Rollenbild des Mediziners verschmelzen, und dies gilt nicht nur für den Roman.

Die kollabierenden Gesundheitssysteme, die Konzentration und Organisation finanzieller Investitionen nur auf dualistische Heilansätze (Trennung von Körper und Geist, induktive Methodik der Wissensaneignung), der Umgang mit neuen Erscheinungsformen von Krankheit, den Zivilisationskrankheiten mit ihren multisymptoriellen Krankheitsbildern, die konstant hohe Hinwendung der Patienten zu alternativen Heilmethoden, die neuen Forschungen zu systemischen Phänomenen in der Genetik und Neurologie, die nun endlich mögliche Verbindung von psychischen und biologischen Wechselwirkungen, all diese Prozesse werden die Aufnahme eines erweiterten Rollenverständnisses des Heilberuflers und der daraus resultierenden Arzt-Patient Interaktion forcieren und begünstigen.

Wenn der Placebo Effekt eine nicht zu unterschätzende Rolle bei jedem Heilungsprozess spielt, ist auch die Form der heutigen Art von Studien in Frage zu stellen, denn wenn es nicht ohne geht, hat der Placebo Effekt auch nach einer Zulassung eine große Bedeutung dafür, ob ein Medikament wirkt oder nicht.
All diese Erkenntnisse sind schwierig zu akzeptieren von denjenigen, die davon ausgehen, dass durch Studien allein objektive Wahrheiten erlangt werden. Erkenntnisgewinn wird durch die Existenz des Placebo Phänomens allerdings nicht einfacher, nur anders. Der Placebo Effekt ist nicht zu verdammen, sondern sollte von allen begrüßt werden, weil er zeigt, dass Geist und Materie untrennbar zusammengehören. Er bedarf – so auch die Aussage der Autoren der Stellungnahme – weitergehender Untersuchung, denn schließlich ist er ein wesentlicher Bestandteil jeder Therapie.

Die komplette Stellungnahme findet ihr unter: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/Placebo_LF_1_17012011.pdf

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