Herophilos von Chalkedon und Erasistratos – Umstrittene Anatomen?

Herophilos und Erasistratos
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Herophilos von Chalkedon und Erasistratos gelten als die wohl berühmtesten Anatomen der Antike. Ihre Forschungen und Werke prägen bis heute unser Verständnis des menschlichen Organismus. Doch ihre vermeintlichen Methoden galten bereits früh als moralisch fragwürdig. Mehr dazu erfahrt ihr im folgenden Beitrag.

Herophilos (geboren um 330 v.Chr. in der Hafenstadt Chalkedon in Bithynien) und Erasistratos (geboren um 305 v.Chr. auf der griechischen Insel Kea) entstammten beide angesehenen Arzt-Familien. Sie waren nicht nur Zeitgenossen, sie hatten auch denselben Lehrer. Der berühmte Arzt Praxagoras hatte auf der Ägäis-Insel Kos die Leitung eben jener ehrwürdigen Ärzteschule übernommen, an der bereits Hippokrates gelehrt hatte. Herophilos und Erasistratos kamen beide aufgrund ihres Alters zeitversetzt als Schüler nach Kos und ließen sich dort zu vollwertigen Ärzten ausbilden. Später zog es beide nach Alexandria im ptolemäischen Ägypten. Dort taten sie sich zusammen, um gemeinsame Forschungen zu betreiben und selbst eine Schule für Anatomie zu eröffnen. Das mag im ersten Moment nach einem schicksalhaften Zufall klingen, doch beide Ärzte wählten Alexandria ganz bewusst als Ort für ihre Studien aus. Und das hing mit der politischen Haltung der Ptolemäer-Könige zusammen.

Die Erkenntnisse von Herophilos und Erasistratos

Herophilos und Erasistratos werden eine ganze Reihe von anatomischen Erkenntnissen zugeschrieben. Herophilos war federführend auf dem Gebiet der Pulslehre und war einer der ersten, die den Unterschied zwischen Arterien und Venen erkannten. Damit bereitete er den Boden für die Entdeckung des Blutkreislaufes. Gleichzeitig finden sich in seinen Werken die ersten Erwähnungen der Bauchspeicheldrüse, der Hirnhaut oder des Eileiters. Auch die einzelnen Schichten der Augapfels beschrieb Herophilos in akkurater Präzision. Erasistratos seinerseits konzentrierte seine Forschung besonders auf das Nervensystem des Menschen. So erkannte er erstmals den Unterschied zwischen sensorischen und motorischen Nerven und dass beide jeweils vom Gehirn ausgehen. Auch dessen Unterteilung in Klein- und Großhirn geht auf Erasistratos zurück. Nicht zuletzt unterschied Erasistratos den Lungen- und den Körperkreislauf.

Brand Alexandria

Bedauerlicherweise gingen die Original-Werke dieser Pioniere der Medizin bei einem der beiden großen Brände der Bibliothek von Alexandria (48 v.Chr. und 391 n.Chr.) für die Nachwelt verloren. Erhalten ist uns das gesammelte Wissen nur in Form von Zitaten späterer, oft römischer Autoren. Daher ist es in einigen Fällen nicht vollends geklärt, welcher der beiden Anatomen genau welche Erkenntnis formuliert hat. Denn die Angaben späterer Zeit sind leider nicht immer deckungsgleich. Dass sie aber unzweifelhaft auf jenes berühmte Anatomen-Duo zurückgehen, das ist unbestritten.

Der vermeintliche Makel hinter dem erworbenen Wissen

Es stellt sich nun aber die Frage: „Wie kamen Herophilos und Erasistratos zu diesen Erkenntnissen?“. Der römische Enzyklopädist Aulus Cornelius Celsus behauptete 200 Jahre später, die beiden hätten mit Erlaubnis der ägyptischen Herrscher Vivisektionen an verurteilten Verbrechern vorgenommen. Zur Erklärung: Eine Vivisektion ist ein chirurgischer Eingriff am lebenden Objekt zu Forschungszwecken.

Herophilos und Erasistratos - Ägypten

War das eine mutwillige Unterstellung des Celsus oder ist an diesen Anschuldigungen wirklich etwas dran? Führende Wissenschaftler sind sich einig, dass viele Erkenntnisse der beiden Anatomen nur auf den Beobachtungen bei Vivisektionen beruhen können. Allein die Studie des Verhaltens von Blutgefäßen und Nervensträngen setzt ein noch lebendes Studienobjekt zwingend voraus. Denkbar wäre dabei natürlich aber auch eine Kombination aus Vivisektionen an Tieren und Obduktionen von menschlichen Leichen.

Ob Herophilos und Erasistratos nun tatsächlich Menschen im lebendigen Zustand seziert haben oder sich dabei auf Tiere beschränkten, wird wohl eine unbeantwortete Frage bleiben. Der Standort Alexandria könnte natürlich einen Anhaltspunkt geben. Allerdings war die Stadt im Nildelta ohnehin ein Mittelpunkt der antiken Wissenschaft und Forschung. Und selbst wenn die beiden berühmten Anatomen ihre Vermutungen nur in Einzelfällen an verurteilten Verbrechern überprüft haben sollten, muss man zu ihrer Verteidigung anführen, dass die antike Medizin dies zumindest in Ausnahmefällen billigte, wenn auch nicht befürwortete.

Ein Denkanstoß unserer Redaktion

Es wäre ein Fehler, Herophilos und Eraistratos nach heutigen Maßstäben zu messen und dementsprechend zu verurteilen. Vor über 2.200 Jahren galten für die Menschen ganz andere Werte und Normen hinsichtlich ethischen Entscheidungen. Worauf sollte ein Forschergeist der Antike zurückgreifen, wenn ihm bildgebende Verfahren und minimalinvasive Eingriffe unter Vollnarkose unserer modernen Zeit nicht zur Verfügung standen?

Herophilos und Erasistratos waren ihrer Zeit weit voraus und bereiteten so den Weg für andere zu noch tiefgreifenderen Forschungsergebnissen. Wir sollten ihre Leistung auf dem Gebiet der Medizin würdigen und trotzdem froh sein, dass spätestens seit Ende des Zweites Weltkrieges Vivisektionen an Mensch und Tier der Vergangenheit angehören.

 

Sämtliche Teile dieser Beitragsreihe findet ihr übrigens unter dem Schlagwort Pioniere der Medizin.

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