Das Seuchenjahr und die Zukunft – Was wir vom Virus lernen können

Das Seuchenjahr und die Zukunft - Was wir vom Virus lernen können
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Wir haben einen der Sprecher des Netzwerk Globalhealth – Dirk Brandl – gebeten, einen Kommentar zum Seuchenjahr 2020 für uns zu verfassen.

Liebe LeserInnen des Blogs A Beautiful Health,

unsere Zeit erinnert ein wenig an die Zeit von Boccaccios Meisterwerk Il Decamerone. Im Florenz des Jahres 1348 wütet die Pest. 7 junge Frauen und 3 junge Männer ziehen sich deshalb in die Abgeschiedenheit eines Landhauses zurück, also sie begeben sich in Quarantäne vor der Pest. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählt jeder im Laufe der nächsten 10 Tage, die sie dort verweilen, an jedem Tag eine Geschichte. Das Decamerone besteht aus diesen Geschichten.

Natürlich ist Corona nicht die Pest und unsere Zeit ist nicht zu vergleichen mit der von 1348. Dennoch fühle ich mich im Übergang zwischen den beiden Jahren an diese Zeit erinnert.

Könnt Ihr Euch noch daran erinnern, wie alles losging? Niemand wusste eigentlich gar nichts. Wir mussten erst von dem Virus lernen, nicht mit ihm leben lernen. Ist es wirklich so gefährlich oder nur eine neue Form von Grippe? wie einige – auch Ärzte – behauptet haben. Benötigen wir Maskenschutz oder nicht? was das Robert-Koch-Institut zunächst noch verneinte. Heute tragen wir sogar FFP2 Masken. Wie überträgt sich das Virus von einem zum andern? Erst viel später kamen die Aerosole zur Tröpfcheninfektion dazu. Was ist ein Zytokinsturm? der die schweren Verläufe verursachte. Und, und, und.

Wegen dem Hunger nach mehr Wissen wurden viele, sogar sehr viele Studien (mehr als 10.000) veröffentlicht – oft ohne die notwendige Überprüfung von Kollegen, die sich ebenfalls mit der Materie auskennen als sogenannte Preprints. Das macht es uns Laien schwer, gute von schlecht gemachten Studien zu unterscheiden. Die Medien versorgen uns am liebsten mit Horror, denn der verkauft sich jetzt gut.

Zuerst schienen wir ja bestens durch die Krise zu kommen, aber Deutschland wurde vom Musterschüler zum Klassenletzten mit 30.000 Toten und einer Sterberate wie in den USA. Welcher Horror hat uns da heimgesucht? Und wir haben noch nicht einmal einen Schuldigen, den wir dafür verantwortlich machen und deshalb steinigen können. Oder können wir alles auf die Querdenker schieben? Und: Steckt nicht in jedem von uns auch ein kleiner Querdenker, zumindest gedanklich?

Die Virologen und die Macht

Es liegt in der Natur der Sache, dass bei diesem Problem Wissenschaft auf Gesellschaft trifft. Die Virologen und andere Spezialisten untersuchen das Virus und seine Verbreitung und müssen ihre Meinung jeweils der aktuellen Forschung anpassen, denn wir haben es nach wie vor mit einem unbekannten Gegner zu tun. Die Regierenden versuchen den Spagat zwischen dem gesellschaftlichen und ökonomischen Desaster und der fortschreitenden Ausbreitung des Virus hinzubekommen. Leider (oder besser Gottseidank?) ist das Virus kein vernunftbegabter Mensch, ja noch nicht einmal ein vollständiges Lebewesen, denn es kann nicht ohne einen Wirt existieren. Es ist nicht mit ihm zu diskutieren, man kann es auch nicht überzeugen. Es verhält sich einfach, wie es sich verhalten muss nach den Regeln der Evolution.

Und wir verhalten uns eben wie Menschen. Es ist zwar verständlich, dass die Politik nicht immer den Vorschlägen der Wissenschaftler folgte, aber das hat uns letztendlich in diese Situation gebracht. Unser oft sehr sinnvoller Föderalismus wurde im Oktober zum Katalysator (zum Chaosclub), der dazu führte, dass sich das Virus unkontrolliert ausbreiten konnte. Aber wir müssen uns auch selbst an die eigene Nase fassen, denn nach dem Sommer haben wir das Virus nicht mehr so ernst genommen. Der Ernst ist an Weihnachten spätestens zu uns zurückgekehrt.Ich möchte hier eine Lanze für den Virologen Christian Drosten brechen, der uns wöchentlich durch seinen Podcast mit Informationen über das Virus versorgt hat. Er hat immer auch gesagt, wenn eine Erkenntnis nicht abgesichert war, er hat sich nie übergriffig gegenüber den Politikern gezeigt, er hat sich oft selbst korrigiert oder in Frage gestellt. Das sind persönliche Fähigkeiten, die nichts mit Wissenschaft zu tun haben, sondern mit Persönlichkeitsentwicklung, die wir unbedingt in dieser Krise (sollte ich besser sagen: in diesem Krieg?) benötigen.

Auch die Politiker sind nicht zu beneiden. Der Satz von Jens Spahn (den ich übrigens persönlich gar nicht leiden kann), dass wir uns viel zu verzeihen haben werden, war gut und richtig, denn wir waren mit einer gänzlich unbekannten Situation konfrontiert, in der man nur falsch handeln konnte. Kanzlerin Merkel merkte man ihre naturwissenschaftliche Ausbildung an, sie hätte uns vielleicht viele Tote erspart, wenn man sie gelassen hätte. Die Ministerpräsident: innen verhielten sich oft wie Gockel oder aufgescheuchte Hühner, die das Ganze aus den Augen verloren haben, das war wirklich schlimm. Aber nicht nur die Bundesländer haben versagt, sondern auch Europa (und die Welt?). Das Virus macht nun einmal nicht an unseren Grenzen halt, deshalb sind Grenzschliessungen eine nicht sehr effektive Maßnahme.

Das lehrt uns das Virus bereits heute: Nur durch Kooperation und Abstimmung können wir die Krise bewältigen, jedes Land allein ist machtlos. Auch die jüngste Grenzschliessung nach Großbritannien war vollständiger Blödsinn, denn das Virus – und auch seine Mutationen – lassen sich nicht aufhalten, zu mindestens nicht in einer Welt wie der unseren. Kann man dann überhaupt von „Versagen“ sprechen? Haben wir nicht lediglich eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg? Wir werden das Virus nur kontrollieren können, wenn es weltweit unter Kontrolle gebracht ist, sonst verlieren wir unsere Freiheit.

Im Gegensatz zu unserer Kanzlerin hatten die USA mit einem Präsidenten zu tun, der alles dafür tat, das Virus zu ignorieren, was er bis heute beibehält. In was für einer verrückten Welt leben wir eigentlich, dass ein Mann wie Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten werden konnte? Statt mutig die Pandemie zu bekämpfen leugnet er sie bis heute. Wie verunsichert und unwissend müssen viele Amerikaner, aber auch Europäer sein, dass diese Art von Ideen Raum greifen? Dass Rassismus und Lügen die Diskussionen bestimmen? Dass wichtige Staaten gegeneinander kämpfen statt miteinander zu handeln? Man kann Trump nicht die ganze Schuld zuweisen. Wir alle haben mit dazu beigetragen, dass Ideologien und faschistische Gedanken wieder hoffähig werden, indem wir unsere Gesellschaft in diesen wehrlosen Zustand abgleiten ließen.

Das Virus und wir

Wir sollten uns schon fragen, was wir aus unserer Freiheit gemacht haben, das lehrt uns das Virus auf jeden Fall. Wenn Freiheit bedeutet, dass wir in einem sinnentleerten und vom Gott Konsum dominierten Leben überall Party machen können und von einem Fest oder Urlaub zum nächsten hetzen, dann verlieren wir nicht sehr viel. Es hat mich schon verwundert, in welchem Zustand unsere Gesellschaft wirklich ist, das sieht man erst in einer solchen Krise. Selbst heute noch sehen wir überlaufende Skilifte und Staus in Skigebieten, was für ein Wahnsinn! Die Sucht nach fortwährendem Vergnügen und Ablenkungen jedweder Art – hat sie uns nicht den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben verschleiert? Gleicht unser Leben nicht eher dem des dekadenten Rom vor seinem endgültigen Untergang aus Fellinis Satyricon?

Die Sucht ist so groß, dass wir wie Alkoholiker an ihrer Flasche am Tanz um das goldene Kalb festhalten und uns deshalb nicht mehr um andere kümmern können. Ich weiß, ich verallgemeinere hier ungerechterweise, aber verzeiht mir, es soll nur der Klarheit dienen. Ich vergesse nicht die Menschen auf den Intensivstationen und Altenheimen und ihre Pflegekräfte und Ärzte, die letztendlich jeden Tag mit Leid und Tod konfrontiert werden. Und auch viele andere nicht, die mit Disziplin durch diese Zeit marschieren. Im Sommer besuchte ich in Rimini, einer mittelgroßen Stadt an der Adriaküste, den dortigen Friedhof. Da konnte man erkennen, was das Virus anrichtet. Eine lange Reihe – mehrere hundert – Gräber ohne Namen, die sehr im Kontrast zu den großartigen Mausoleen standen, die man dort auch sehen kann. Das war nicht mehr lustig, das war erschütternd. Und Rimini ist nicht Bergamo, wo das Virus ja schon viel früher – wie wir jetzt erst wissen – wütete.

Werden wir irgendwann wieder zu unserem alten Leben zurückkehren können? Können uns die schnell entwickelten Impfstoffe retten? Ich persönlich glaube, es wird kein Zurück mehr geben. Die Impfstoffe können die Anzahl der Toten reduzieren, aber sie werden das Virus nicht ausrotten können. Das ist unmöglich. Herdenimmunität bedeutet ja lediglich, dass sich das Virus nicht mehr so gut und unkontrolliert ausbreiten kann, weil es nicht mehr so vielen Menschen begegnet, die noch keine Immunität entwickelt haben. Weil es sicher mehrere Jahre dauern wird, bis überall auf der Welt genügend Impfstoff zur Verfügung steht. Die jetzt diskutierten Mutationen zeigen uns auch, welche Strategie das Virus verfolgen muss, nämlich die, sich fortwährend zu verändern. Selbst wenn die bisherigen Mutationen noch von den entwickelten Impfstoffen kontrolliert werden können, irgendwann wird es Mutationen geben, die neue Impfstoffe benötigen. Und wie lange machen uns die Impfstoffe immun, lebenslang oder nur wenige Monate? Sind wir nach einer Impfung nicht mehr ansteckend? Das weiß bislang niemand.

Und noch etwas hat uns das Virus gelehrt: Einmal jährlich wurde uns auf einer der hinteren Seiten unserer Tageszeitung mitgeteilt, wieviel Tote uns die vergangene Grippe gebracht hat. Manchmal waren es nur wenige tausend, manchmal aber auch 30.000 pro Jahr. Das hat uns wenig gekratzt. Ich glaube, dass wird sich verändern, wir werden die Masken im Herbst und Winter nicht mehr ablegen, ob durch staatliche Auflagen oder, weil wir dies gelernt haben: Wir können uns vor Viren und ihrer Ausbreitung schützen, auch vor dem Influenza Virus. Und wir können dadurch verhindern, dass wir uns gegenseitig anstecken. Lehrt uns das Virus also mehr Mitgefühl und Achtsamkeit mit uns selbst? Vielleicht, ich hoffe es.

Hoffnungen

Keine Hoffnung? Doch, sogar große Hoffnungen. Die Hoffnung, dass uns das Virus lehrt,

  • dass wir in einer Welt leben und Globalisierung für uns und auch für Viren gilt.
  • dass wir erkennen, welche Zwänge und Süchte uns beherrschen, von denen wir uns befreien dürfen.
  • dass wir jetzt die Möglichkeit haben, einen neuen Sinn in unserem Leben zu entdecken.
  • dass wir in dieser Krise unsere besten Eigenschaften mobilisieren müssen.
  • dass wir die großen Verlierer, die Kulturschaffenden, Gastronomen und Hotels etc. nicht allein lassen dürfen.
  • dass wir alle zu neuen Ufern aufbrechen statt wieder dorthin zurückzukehren, wo wir vor der Pandemie standen.
  • dass wir uns nicht vom Virus beherrschen lassen und rein emotional handeln, sondern ihm diszipliniert, kühl und beherrscht entgegentreten, ganz egal, ob wir an seine Gefährlichkeit glauben oder nicht. Einfach aus Solidarität.
  • dass wir – so grausam und tödlich es auch sein mag – unsere Menschlichkeit, unsere Zuversicht und unseren Frohsinn nicht verlieren.

Dazu ein Zitat aus dem letzten Kapitel des Decamerone, das ganz gut zusammenfasst, was am Ende unserer Quarantäne stehen könnte:

„Wie ihr wisst, sind es morgen vierzehn Tage, dass wir Florenz verließen, um uns zur Erhaltung unserer Gesundheit und unseres Lebens einige Erheiterung zu gewähren und dem Trübsinn, dem Schmerz und der Angst zu entgehen, die man in unserer Vaterstadt, seitdem diese traurige Pestzeit begonnen, beständig vor Augen hat. Dies haben wir nun, meinem Urteil nach, in allen Ehren getan.“

Ich wünsche allen Lesern ein gutes und kraftvolles Jahr 2021. Ich wünsche dem Blog A Beautiful Health, dass er uns alle weiterhin mit interessanten und unterhaltsamen Artikeln versorgt. Lasst Euch nicht unterkriegen!

Dirk Brandl

https://www.network-globalhealth.com/network-globalhealth/contact/

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