Plädoyers für eine Erweiterte Medizin 11 – Über die historische Veränderung des Rollenverhältnisses zwischen Arzt und Patient

Verhältnis Arzt Patient
5
(3)

Ein Gastartikel von Volker Schrader

In den letzten Artikeln habe ich mich auf die sozialen, politischen Rahmenbedingungen und deren prägenden Einfluss auf die pathologischen Befindlichkeiten der Patienten und deshalb auf den Kommunikationsprozess zwischen Heilberufler und Patient konzentriert. Es gibt aber noch einen übergeordneten, evolutionären Rahmen und dessen Einfluss auf eine Interaktion oder besser eine Beziehung zwischen den Akteuren. Dieser wirkt signifikant und prägend auf die Verhältnisse in den Heilungsprozessen ein und ist deswegen fundamentaler als Akzente in vereinzelten schief gelaufenen kommunikativen Akten.

Zunächst jedoch noch eine Anmerkung zu schief gelaufenen Kommunikationen oder Interaktionen: Diese können immer wieder reguliert werden – auch bei negativen Stimmungen – z.B. so: „Ich glaube, mir ist das gestern (heute usw.) nicht gut gelungen, mich bei Ihnen verständlich zu machen. Ich hatte einfach zu viel um die Ohren. Sie haben es aber nicht zuletzt im Hinblick auf Ihre Gesundheit verdient, dass ich noch einmal einen Versuch unternehme, Ihre Frage zu beantworten.“ Schon ist das Kommunikationsproblem und die einhergehende Störung beseitigt.

Zur Autoritätsproblematik

Erwarte ich als Heilberufler, dass meinen Anweisungen Folge geleistet wird, bekomme ich ein anhaltend gestörtes Arzt-Patienten-Verhältnis und minimiere die heilenden Wirkungen einer/meiner Beziehung zum Patienten. Dieser oben genannte Anspruch, Autorität zu sein, mag durchaus legitim sein, aber in unserer heutigen Zeit ist die Eigenverantwortung der Patienten anders zu bewerten, ja sie wird vielfach sogar eingefordert. Natürlich wäre es nicht schlecht, wenn es immer noch so laufen könnte wie in der KFZ-Werkstatt: Wenn die Werkstatt behauptet, die Kupplung ist defekt, wird das meist nicht hinterfragt.

Im therapeutischen Geschehen ist dies nicht zeitgemäß und deshalb wenig erfolgreich. Die sozio-kulturellen Rahmenbedingungen haben sich verändert. Der Patient redet mit und seine Mentalität ist dabei von der Tatsache geprägt, dass er vom „König Kunde“ zum „dummen Konsumenten“ degradiert wurde und sich deshalb in allen anderen Beziehungen, in denen es um ihn und seinen Körper geht, rehabilitieren möchte. Er realisiert, wenn auch unbewusst, dass die Verhältnisse ihn krank machen. Alle in Heilberufen Tätigen sollten sich immer wieder bewusst machen, dass ein harmonisches Verhältnis zwischen ihnen und ihren Patienten für die Gesundheit der Patienten schon die halbe Miete ist. Alle Studien belegen diese Tatsache.

Exkurs: Die Auswirkungen der Veränderung unserer gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg auf Kommunikationsprozesse

Für mich gibt es in diesem Zusammenhang noch einen weiteren übergeordneten Rahmen, nämlich die historische Dimension, die klärend für das Verhältnis zum Patienten ist.

Lassen Sie mich zur Erklärung vorausschicken: Alle gleich zu beschreibenden Ebenen agieren dabei gleichermaßen und ihre Wechselwirkungen beeinflussen das Heilungsgeschehen, und sie bedingen sich gegenseitig.

Die Analyse dieser Zusammenhänge soll aufklärend sein und zu einem gesteigerten Bewusstsein über die Folgen führen, um damit ein besseres Verständnis für die Situation der Patienten zu erzeugen. Sie soll zum Ausgleich der enthaltenen Antagonismen und ihren anstrengenden Wirkungen in Heilberufen beitragen.

Was genau ist darunter zu verstehen?
In den Industrienationen galt das für frühere Zeiten, in einigen Ländern ist dies auch heute noch aktuell: Die Erziehung der jüngeren Generation erfolgte durch die objektive Notdurft der realen Lebensbedingungen. Wenn keine Schokolade da ist, kann man auch keine essen oder erquengeln. Das ist für jeden heranwachsenden Organismus evident oder sollte es zumindest sein. Aber immer dann, wenn die Eltern in der Zivilisation als Ersatz-Erziehungsinstrumente zwischen die Realität und ihre Kinder treten („Schokolade ist nicht gut für Dich.“), ergibt sich eine völlig andere Situation: Die Glaubwürdigkeit der Erziehungspersonen steht nämlich dann auf dem Spiel. Da diese aber selbst durch den Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit der Eltern verloren geht, überträgt sich das auf die Kinder.

Daraus ergibt sich erstens: Ist diese Glaubwürdigkeit durch widersprüchliche Erfahrungen, durch Regelunterbrechungen, durch Lügen, Ausreden, Inkonsequenz und Vieles mehr in Frage gestellt, gibt es Opposition und Vertrauensverlust, was heute allenthalben zu erleben ist. Unsere Lehrpersonen können ein Lied davon singen. Da sich Kinder aber eine solche Infragestellung derer, von denen sie existentiell abhängen, nicht leisten können, ergibt sich zweitens ein Zwang zur Anpassung sowie Schuldgefühle, wenn ihnen das aus Gründen der eigenen Triebhaftigkeit nicht gelingt. Sie halten sich dann für „böse“ Kinder. Die Folgen für ein heranwachsendes Ego sind verheerend: Verlust des Selbstwertgefühls.

Wenn dann noch das Prinz- und Prinzessinnen-Dasein der frühen Tage verloren geht, ist der pathogene Kern gelegt. Prinzund Prinzessinnen-Phasen gehen immer dann zu Ende, wenn die Eltern ihre aus denselben Gründen entwickelten narzisstischen Bedürfnisse durch die Kinder erfüllt haben, oder es sich zeigt, dass diese nicht zu befriedigen sind aus Mangel an warenästhetischen Anlagen der Nachkommen. Gemeint ist hier, dass die eigenen Kinder auf dem Markt der Eitelkeiten nur unbefriedigend im Sinne der Eltern agieren.

Es beginnt der Prozess der scheinbaren Unterwerfung (Anpassung ade), der Selbstverleugnung der Scham, wenn man nicht automatisch so ist, wie die Eltern das wünschen. Je länger man Zaungast in diesem Familienspiel ist, desto unglaubwürdiger werden die, denen man sich pausenlos unterwerfen muss. Das Ganze führt nach und nach zu einer Schismogenese, also unwiederbringlicher, schmerzhafter und traumatisierter Trennung und körperlich zu multiplen und chronischen Krankheiten.

Inzwischen haben wir es bereits mit den Folge-Folge-Generationen der ersten Nachkriegsgeneration zu tun, sodass noch ein paar andere Erschwernisse das Chaos der Persönlichkeitsbildung beflügeln. Die Eltern selbst sind bereits Opfer dieser Entwicklungen und fühlen sich vielfach in ihrer Ohnmacht allein und mit einem schwachen Ego ausgestattet, den Ansprüchen einer klaren Erziehung gerecht werden zu müssen. Helikoptereltern lassen grüßen.

Die Schwächung dieser Elternrolle führt die Kinder zu einer unbewussten, aber dennoch psychisch sehr aktiven Erkenntnis, dass sie nämlich mit ihren Problemen alleine sind und ihnen niemand hilft. Es geht in vielen Fällen sogar so weit, dass die Eltern ihre Kinder mit Partnerschaftsproblemen und deren Folgen konfrontieren, alles unter dem verlogenen Deckmantel einer Erziehung und Partnerschaft auf Augenhöhe. Diese „demokratistischen“ Anwandlungen pervertieren ein Eltern-Kind-Verhältnis und instrumentalisieren den eigenen Nachwuchs im Kampf gegen den ehemaligen Partner oder um die Vorherrschaft in der Beziehung.

Kinder haben ein Anrecht auf Schutz und Entwicklung und können nicht in Entscheidungen über ihre Zukunft mit einbezogen werden, ohne selbst Kenntnisse über die Welt zu besitzen.

Sie verlieren die Fähigkeit zur Hingabe an Dinge, die größer und stärker sind als sie. Sie verlieren die Möglichkeit, ihre Batterien aufzutanken.

Dass Kinder bereits früh traumatisiert sind, kommt bei Menschen, die noch im Verhältnis der Notdurft zur Natur stehen, nicht vor. Auch dass es eine begrenzte Welt gibt mit vielen Enttäuschungen und harten Erlebnissen führt nicht direkt in Traumata, sondern dass sie belogen wurden über eine Welt, in der Schlümpfe regieren und Weihnachtsmänner die Geschicke lenken, d.h., dass sie in einer Welt leben, in der sie zugrunde gehen, wenn sie nicht schnell Antworten auf die Fragen gewinnen, warum gestalkt, gemobbt, betrogen, belogen, geprügelt und gemordet wird. Sie haben sich auf ihre Ratgeber verlassen, und jetzt stehen sie vor den Ruinen des Vertrauensverhältnisses, d.h. dass sie gestörte Verhältnisse leben müssen.

Vom Traumverhältnis zum Realverhältnis

Bitte stellen Sie sich als Heilberufler angesichts dieser geschilderten Zusammenhänge die folgende Frage: Wer sind Sie, dass sie nun vor einem Patienten stehen, der das Vertrauen und die Fähigkeit zur Hingabe verloren hat und es nun wieder einfordern? Sie können fordern, was Sie wollen, aber Google hat gesagt und Wikipedia hat genau gewusst … Da kommen Sie mit Forderungen nicht weiter, da benötigt es Verständnis. Sie können schon froh sein, dass nicht jeder Patient Sie bereits mit Herr oder Frau Kollege/in anspricht: „Wikipedia meint, ich hätte ein Magengeschwür, was meinen Sie dazu?“

Das Individuum ist in dieser widersprüchlichen komplexen Welt überfordert, es ist ohnmächtig und hat Angst, die es sich aber im Kampf ums Überleben nicht leisten kann. Das alles sind sich permanent hoch schaukelnde pathogene Faktoren. Die Patienten kommen verunsichert in Ihre Praxis mit einem Moloch von Angst im Körper. Sie haben Angst vor einer vernichtenden Diagnose, die ihr Leben ruinieren könnte: Nichts mehr wert zu sein, nicht mehr zu funktionieren. Das gilt gerade für die, die in die Praxis stürmen mit den Worten: „Sie können mir den Kopf abreißen. Angst habe ich noch nie gehabt.“

Das ist die erfolgreichste Angstabwehrstrategie fürs Ego, der Körper sieht das zwar anders, aber der spricht ja nicht.

Fazit

Sie sind an einer zentralen Stelle, diese krankmachenden Hinterlassenschaften aus unseligen Erziehungsverhältnissen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu neutralisieren, auch wenn sie sich von Eltern zu Eltern unterscheiden mögen. Dafür bedarf es eines sehr tiefen Verständnisses für die Seelenqualen, mit denen der einzelne Patient sich herumschlägt. Es wird eine für Sie überraschende Freude sein, wenn Sie erleben, wie viel Erlösung und Heilung Sie allein damit bewirken können. Mindestens so viel wie mit dem ganzen Aufwand einer technologischen und pharmazeutisch-chemischen Industrie.

Wie hilfreich war dieser Beitrag?

Klicke auf die Sterne um zu bewerten!

Kommentar verfassen