Volker Schrader
Dass jeder Organismus, also auch das menschliche Wesen, sein Leben im Zusammenhang und Austausch mit seiner Umwelt betreibt, ist eine Binsenweisheit. Jeder Organismus muss seine Resilienz gegenüber den feindlichen Kräften der Natur behaupten und gleichzeitig von ihr leben. Neuere Erkenntnisse deuten darauf hin, dass diese Zusammenhänge bislang unterbewertet wurden.
Autopoiese (= sich selbst schaffen) als Lebensprinzip
In der Neurobiologie gibt es eine Strömung, die behauptet, dass der menschliche Organismus das Ergebnis einer Autopoiese ist (1). Diese These kann aber nicht als faktische Wahrheit interpretiert werden, denn jeder Einzeller und damit auch jede Zelle lebt vom Austausch mit dem Milieu, in dem er existiert. Die Neurobiologen dieser Schule sagen konkret, dass Zellen (bzw. alle Systeme) operationell geschlossen und informationell offen sind. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die von ihnen angetroffene Beobachtung sich auf ein Lebensprinzip bezieht und nicht auf eine ontologische Determination (hier: individuell festgelegte Bestimmung). Das inhärente Lebensprinzip besteht darin, dass Zellen bzw. Organismen ihr Leben gegenüber den gegebenen Wirkungen aus der Umwelt zu behaupten haben. Die Resilienz oder Immuneigenschaften des Organismus sichern seine Überlebensfähigkeit.
Dabei spielen die genetischen Voraussetzungen eine genauso determinierende Rolle wie die epigenetischen.
Ich möchte hier das Augenmerk auf den Fakt konzentrieren, dass die Aktivität des Organismus darin besteht, sich zu schützen. Das Invasive des Milieus ist eben gegeben und benötigt keine Aktivität.
Das stimmt auf zellulärer Ebene sicherlich, gilt aber nur im übertragenen Sinn für den menschlichen Organismus, denn er erfüllt diese lebenserhaltende Eigenschaft durchaus über seine konkreten Aktivitäten, z.B. durch Essen und Liebe.
Wir können nur in diesem Zusammenhang erkennen, wie wesentlich des Menschen Schutz- bzw. Sicherheitsaktivitäten sind. Sie dominieren seine gesamte emotionale Welt. Selbst vermeintlich offensive Menschen sichern durch ihre Handlungen Systemkohärenzen.
Das Geschäft der großen Versicherungskonzerne beweist dies anschaulich.
Exkurs: Die historische Entwicklung des sozialen Stoffwechsels
Als der Mensch begann, durch evolutionären Druck den aufrechten Gang zu praktizieren und Werkzeuge zu produzieren, wobei er seine Umwelt stets veränderte als auch sich und seine Bewusstseinsentwicklung betrieb, tat er in diesem Sinn nichts anderes als seine Sicherheit gegenüber den Gefahren der Natur zu erhöhen. Und das tat er durchaus sehr erfolgreich, wenn man die Geschichte der Menschheit und die Entwicklung der von ihr erzeugten Produktivkräfte verfolgt.
Er erkannte den Sinn seiner Gesellschaftlichkeit und hat diese Jahrhundert für Jahrhundert erhöht bis zur Globalisierung. Er hat Erfahrungen gemacht, seine Gehirn- und Neuronalfunktionen erhöht, er hat geforscht, erfunden, die Industrialisierung und Staatenbildung erzeugt bis zu den bekannten Formen der Demokratie. Alles im Sinne der Sicherheit und des Überlebens. Wenn es notwendig war, hat die Gesellschaft einige Menschen dafür erzeugt, die ihre individuelle Sicherheit für die gesamtgesellschaftliche Sicherheit aufgegeben haben. Denken wir an die bemannten Flüge auf den Mond und die vielen globalen Entdeckungstouren.
War die Umgebung besonders feindlich, entweder durch natürliche Bedrohungen oder durch politische, wurden die Sicherheitsinteressen des Menschen überbetont.
Ein Leben, das „erfolgreich“ alles abwehren kann, krankt dann folglich an Unterversorgung und bedroht sein Überleben von innen.
Die Regulation von Sicherheit und Austausch hat sich in den letzten 200 Jahren individualisiert, d.h. sie ist zum persönlichen Geschäft bzw. Sicherheitsanliegen geworden. Da das Individuum bei der Aufgabe, Resilienz zu garantieren alleine sehr schwach ist, neigt es zur Überbetonung von Sicherheit. Für diesen Zustand gibt es dann Ausgleichshandlungen, die Suchtcharakter tragen, was wiederum pathologisch wird.
Homöostatischer Ausgleich statt Sicherheit in der Zeit des Homo Consumensis
Also können äußere Gefahren bzw. deren Abwehr durchaus nach innen verlagert werden. Außenwelt und Innenwelt wechseln in ihrer Positionierung. Ziel kann folglich keine absolute Sicherheit sein, sondern ein homöostatischer Austausch mit der Welt. Das Bewusstsein über die Kriterien von Assimilation und Dissimilation bzw. die richtige Einschätzung der Welt wird damit zur Überlebensqualität. Dafür benötigt der Einzelne Unterstützung in Form von Information über die Lebensführung, den Life Style, Immunstärkung usw.
Leider trifft er bei seiner Recherche fast ausschließlich auf ein ausgefeiltes Marketing für diesen wachsenden Markt.
Die Tatsache, inzwischen homo consumensis geworden zu sein und den vielfältigen pathologischen Auswirkungen dieses Daseins zu unterliegen, verfolgt ihn also auch bei der Recherche nach einer gesunden Lebensführung. Die vorherrschende Erscheinungsform der Dysregulation zwischen Organismus und Umwelt ist der Stress. Stress besteht nicht in einer notwendigen, der freien Entscheidung unterworfenen Anpassung an die Umwelt. Stress entsteht durch innere Kämpfe und Widersprüche zwischen sozialer Anpassung und individueller Freiheit oder durch das dominierende Über-Ich, durch das man sich ununterbrochen selbst bespitzelt und selbst bewertet.
Der Kampf gegen das Gefühl der Minderwertigkeit ist das Brennmaterial für diesen toxischen Stress. Moralisch wird dieses Gefühl pausenlos von der bewertenden Umwelt getriggert, die das Individuum ständig zwischen Egoismus und Nächstenliebe kategorisiert. Heißt es doch schon in der Bibel und charakterisiert diese Dialektik: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“
Pränataler Stress
Dieser Stress und die damit verbundenen Körperdispositionen werden natürlich auch vererbt. Sie sind nicht mechanistisch prägend, aber ihr epigenetisches und in der Sozialisation erlebtes Potential geht eben aus den genetischen Vorfahren hervor. Nur selten – bei Waisen – haben die Neugeborenen es ja nicht mit ihren gestressten Eltern zu tun, sondern mit einer unbekannten Disposition.
Der Stress beginnt schon in der Schwangerschaft. Wird das Kind denn auch toll, können wir stolz darauf sein? Was um Himmels Willen muss ich tun, um ein gesundes Kind zur Welt zu bringen? Dieser unangemessene Hype um die Nachfolger ist die schädliche Auswirkung der Leistungsgesellschaft, die den Menschen in die Warenform presst und dann auch zu dem bekannten Phänomen der Helikoptereltern führt. Die Evolution verschreibt uns als Gattungswesen Nachkommen, aber keine Eliten.
Eliten sind nicht überlebensfähig. Wir Menschen sind das Produkt der Vermischung von vielen hominiden Vorfahren, auch des Neandertalers. Wir sind Hybriden und nur Hybriden – auch im gesamten Tierreich – haben dem evolutionären Druck widerstanden.
Der Stress beginnt also nicht erst nach der Geburt, wenn das Kind seine ersten Events performen muss als Ausgleich für den verletzten narzisstischen Stolz seiner Eltern, sondern dies beginnt eben bereits in der fetalen Phase. Die Stresshormone, der Ärger, die Disharmonie der Eltern, all das saust hormonell durch den Blutkreislauf des Embryos und heraus kommt ein ADHSler, Borderliner und andere pathologische Störungen bei der heutigen Kindergeneration.
Die statistischen Zahlen von psychisch gestörten Kindern erreichen bald die 50% Grenze und eines ist klar: Gott ist dafür nicht verantwortlich, allerhöchstens das ausufernde, unregulierte, verantwortungslose Verhalten der großen Konzerne.
Der postnatale Stress durch ständig gereizte Eltern, die ihre Identität als Individuen einer Partnerschaft opfern müssen und diesen Anpassungsvorgang immer seltener bewältigen, führt zu permanenter Angst bei den Kindern, die sich verschließen und zu Aspergern oder Autisten werden.
Es geht hier nicht darum, ob dies vermeidbar ist, das Leben in den vergangenen Jahrhunderten war nicht gesünder, wenn auch aus anderen Gründen, aber diese klare Erkenntnis, dass unsere konkrete Welt zwingend diese Probleme erzeugt, sollte nicht verwässert werden.
Neuere Erkenntnisse der Zellsteuerung – wer ist der Boss?
Abschließend möchte ich noch die Erkenntnisse der Zellforschung skizzieren, damit die Barriere erkannt wird, über die diese Vorgänge den Organismus toxisch beeinflussen.
Seit einiger Zeit wissen wir, dass die Gene nicht unser Leben bestimmen, sondern allerhöchstens disponieren. Gene können sich nicht selbst an- oder abschalten, wissenschaftlich ausgedrückt sind sie nicht „selbst emergent“. Ihre Aktivität muss durch ihre Umwelt ausgelöst werden.
Wir sind also keine biochemischen Maschinen. Wir könnten unser Leben durchaus selbstbestimmen, wenn uns die konkreten Lebensbedingungen das erlauben. Im Rahmen dieser Bedingungen fällen wir zwar bescheidene, aber doch im gewissen Rahmen eigene Entscheidungen.
Unser Körper besitzt keine Funktion, die nicht in jeder Zelle angelegt ist. Jedes organische Subsystem ist dort angelegt, selbst ein primitives Immunsystem, in das antikörperartige Ubiquitin-Proteine eingesetzt werden. Auf dieser Basis lernen Zellen durch ihre Umgebung, speichern Erinnerung und vererben sie.
Der evolutionäre Druck hat die Einzeller in der Frühzeit des Planeten dazu gezwungen, sich in größeren Gemeinschaften zu organisieren. Je besser ein Organismus seine Umgebung wahrnimmt, desto größer ist seine Überlebenschance. In diesem Sinn ist die Evolution sicher ein Ergebnis einer höchst organisierten, symbiotischen Form der Kooperation aller lebendigen Organismen. Wir bestehen aus ca.50 Billionen Zellen und werden von anderen Organismen in noch größerer Anzahl bewohnt.
Wir sind also von Natur aus multi-kulti. Immer wieder hört man die Mär von den Genen, die entdeckt wurden und Ursache für Krankheiten wie z.B. Depression seien. Hier werden über entdeckte Zusammenhänge gleich Ursache-Wirkungsmechanismen hineininterpretiert.
Es gibt auch einen Laborbeweis, dass das Genom im Zellkern nicht das Gehirn der Zelle ist und folglich über seine Existenz bestimmt (2). Extrahiert man den Nucleus aus der Zelle, so bewegt sie sich trotzdem weiter, die Wunde wird geschlossen, die Zelle erholt sich. Sie lebt bis zu 2 Monaten weiter, ohne Gene. Entnukleierte Zellen zeigen weiterhin komplexe lebenserhaltene Verhaltensmuster, die darauf schließen lassen, dass das Gehirn der Zelle immer noch intakt ist. Es gibt allerdings auch einen Nachteil. Die Zellen können sich nicht mehr teilen und keine Proteine mehr herstellen, die sie durch die Abnutzung des Zytoplasmas verbrauchen. Also sterben sie irgendwann.
In diesem Kontext ist es wahrscheinlich, dass das Gehirn der Zelle an der Schaltstelle zur Außenwelt zu vermuten ist, und das ist eben die Zellwand.
Wir können insgesamt daraus schlussfolgern, dass die Umwelt einen konstitutiven Beitrag unseres Lebens darstellt und dass dies in den unterschiedlichen Regionen und Klimazonen dieser Welt in unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen sehr spezifisch ist und von uns eine wechselnde Anpassungsfähigkeit verlangt. Es wäre auch sonst schlichtweg überflüssig, in jede Zellwand 1.000 bis 2.000 Proteine einzubauen, die alle wichtige Funktionen der Zellregulation ausfüllen.
Die produktive und kreative Fähigkeit zu einem ökologischen und nährenden Umgang mit der Welt ist ein zentraler Faktor für die Gesundheit.
Deswegen sollte bei jeder Therapie auch die Förderung dieses wesentlichen Momentes berücksichtigt werden. Eine reaktive Abwehr äußerer Wirkungen ist ebenso schädlich wie die vollständige Unterwerfung darunter.
In unserer Welt bedeutet dies, den Glauben und die Anstrengungen für ein humanes Leben aufrecht zu erhalten. Das ist das Optimum des Erreichbaren für ein gesundes Leben mit gesunder Resilienz.
Literatur:
1 Maturana HR & Varela FJ, Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, Fischer Taschenbuch, 1984/2009, ISBN 978-3-596-17855-1
2 Lipton BH, Intelligente Zellen Wie Erfahrungen unsere Gene steuern, KOHA-Verlag 2019, ISBN 978-3-86728-307-6
Sozialer Stoffwechsel und seine Bedeutung für Gesundheit und Krankheit – das war neu für mich, dass das so eine große Bedeutung hat. Mit Autopoiese werde ich mich etwas mehr beschäftigen, ein interessantes Konzept.