Diagnose Borderline – Will ich es eigentlich wissen?

Diagnose Borderline - Will ich es eigentlich wissen?
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Kaum eine Persönlichkeitsstörung ist so stark mit Stigmata behaftet wie Borderline. Oftmals fragen sich Mediziner daher, ob sie ihren Patienten diese Diagnose überhaupt mitteilen sollen. Doch sollte ein Arzt diese Entscheidung überhaupt treffen dürfen? Ist es nicht das Recht eines jeden Menschen, zu erfahren, was mit ihm los ist? Diese Diskussion läuft derzeit international auf Twitter. Wir liefern euch die Hintergründe.

Die Meinungen sind gespalten

Viele jüngere Therapeuten bekommen schon früh eingetrichtert ihren Patienten bestimmte Diagnosen gar nicht erst mitzuteilen. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) steht ganz oben auf der Liste. Es wird die Meinung vertreten, man dürfe einem Patienten nicht die Hoffnung rauben, indem man ihn mit einer so ernsten, stigmatisierenden und schwer zu behandelnden Störung konfrontiere.

Einige Therapeuten entsprechen dem jedoch vehement und argumentieren, gerade eine offene, direkte Diagnose könne vielen Betroffenen einen großen Stein von der Seele nehmen. Ein Problem begrifflich erfassen und einordnen zu können, wirke auf viele Menschen unheimlich befreiend. Ihnen die Diagnose vorzuenthalten hieße, ihnen die Fähigkeit abzusprechen, erwachsen mit dem Thema umzugehen.

Bei einer schweren Lebererkrankung oder einem bösartigen Tumor beispielsweise steht diese Frage gar nicht zur Debatte. Die Diagnose wird ausgesprochen, der Patient emotional aufgefangen und eine Strategie für die Behandlung erörtert. Warum sollte es bei einer BPD anders sein?

Wichtig zu wissen ist übrigens:
Wer in Deutschland bewusst eine Diganose verschweigt – sei sie psychischer oder physischer Natur – macht sich ganz klar strafbar.

Therapeuten lassen oft objektive Distanz vermissen

Allzu häufig findet die angemahnte Stigmatisierung der BPD durch die Kliniker statt und weniger durch die Betroffenen selbst. Lange Zeit wurde Borderline als nicht behandelbar eingestuft. Und eben diese Meinung hält sich hartnäckig in den Köpfen vieler Therapeuten. Schlimmer noch: Sie projizieren diese Einschätzung auf ihre Patienten und wollen sie schützen, indem sie ihnen die Diagnose verschweigen.

Die BPD steht selten allein, sondern wird von einer Vielzahl anderer Erkrankungen begleitet. Dazu gehören unter anderem Depressionen, Betäubungsmittelmissbrauch oder auch Zwangsstörungen. Bis zu 75% aller Borderline-Patienten zeigten in der Vergangenheit selbstverletzendes Verhalten und Schätzungen zufolge begeht fast jeder Zehnte Betroffene Suizid.

Wovor sich Psychiater jedoch vermutlich am meisten fürchten, ist wohl die erhöhte Wahrscheinlichkeit für Suizidversuche bei BPD-Patienten.
Dr. Kaz Nelson, Universiy of Minnesota

Ist Borderline etwa eine Störung mit Fußnote? Therapeuten sollen mitfühlend und urteilsfrei sein und darüber hinaus niemanden diskriminieren … außer Menschen mit BPD?

Borderline - Einsam in der Menge

Neue Therapien bieten Chance auf Erholung

Seit den 1980er Jahren werde Persönlichkeitsstörungen in Fachkreisen als sogenannte Achse-II-Störungen eingestuft. Diese gelten als langwierig, mitunter sogar lebenslang, und schwer bis gar nicht zu lindern. Lange Zeit bestand die gängige Praxis darin, die Betroffenen erst gar nicht mit der Diagnose Borderline zu konfrontieren, sondern in gemeinsamer Therapiearbeit einzelne Verhaltensweisen und Muster aufzudecken. An diesen konnte dann spezifisch gearbeitet werden.

Wo keine therapeutische Lösung zu finden ist, werden Betroffene sprichwörtlich abgeschrieben und mit entsprechenden Medikamenten ruhiggestellt. Nur wer die Verhaltensweisen seines Patienten als das begreift, was sie in Wirklichkeit sind, nämlich gute und richtige Reaktionen auf krankmachende Verhältnisse, kann ihm auch tatsächlich helfen. Borderliner mit ihren starken Stimmungsschwankungen brauchen eine ausgeglichene empathische Begleitung, die ihrer Gefühlswelt Halt gibt und eine Balance schafft.

Der moderne Therapieansatz setzt gezielt darauf, die Persönlichkeitsstörung Borderline als Ganzes zu betrachten und demensprechend anzugehen. Besonders durch die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) können Betroffene lernen, ihre Emotionen zu kontrollieren und zwischenmenschliche Beziehungen zu verbessern oder zu retten. Aber auch andere Behandlungsformen verzeichnen durchaus positive Ergebnisse.

Derzeit gibt es noch keine zugelassene Medikation für BPD. Allerdings können einzelne Begleiterscheinungen wie Depressionen oder Angstzustände abgemildert und so das Grundproblem angegangen werden.

Wurde der Wandel in Fachkreisen verschlafen?

Am ehesten wäre dem eingefahrenen Verständnis vor allem der älteren Therapeuten durch eine neue Leitlinie von oberster Stelle beizukommen. Doch genau dort scheint die aktuelle Diskussion noch nicht angekommen zu sein.

So stammt die letzte Aktualisierung der Leitlinien der American Psychiatric Association (APA) beispielsweise noch aus den frühen 2000er Jahren. Seit nunmehr 15 Jahren hat sich auf dieser Ebene also überhaupt nichts getan. Es verwundert also nicht, dass viele junge Therapeuten im Studium immer noch veraltete Grundsätze zu hören bekommen, die längst nicht mehr up to date sind.

Jede andere medizinische Disziplin könnte sich einen solchen Dornröschenschlaf hinsichtlich ihrer Leitlinien nicht leisten. Warum sollte die Psychologie eine Ausnahme darstellen?

Hoffnungsvoll stimmt uns von A Beautiful Health, dass die Stimmen der Verfechter moderner Therapieansätze in den letzten Jahren immer lauter werden. Die Entwicklung in der angewandten Praxis ist in vollem Gange und nicht mehr aufzuhalten. Manchmal muss eine Reform wohl von unten kommen, wenn ihre Notwendigkeit von oben nicht aufgegriffen wird.

Was sagen wir allgemein zum Thema Psyche?

Wenn ihr über euch selbst denkt, dass ihr psychische Probleme habt, dann sagen wir euch ganz offen: Keine psychische Reaktion ist eine Krankheit! Sie ist vielmehr eine gute und richtige Reaktion eures Organismus auf untragbare Verhältnisse. Das ewige Schubladendenken mag für Psychologen richtig sein, wenn es darum geht, die spezifische Art der Reaktion zu kennzeichnen. Aber solange diese Reaktion als krank deklariert und Betroffene dadurch stigmatisiert werden, kann es für sie auch keine Heilung geben.


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Ein Kommentar zu „Diagnose Borderline – Will ich es eigentlich wissen?“

  1. Danke für diesen hilfreichen Artikel zu diesem wichtigen Thema. Besonders berührte mich die Aussage am Ende, dass psychische Devianzen eine gesunde Reaktion auf untragbare Verhältnisse sind.

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