Am 1. Februar 2023 wurde ein Artikel in Medscape (1) deutsch publiziert mit der etwas reißerischen Überschrift: „Autismus bald Volkskrankheit? Zwischen 2000 und 2016 haben sich Autismus-Fälle verfünffacht, finden US-Forscher. Warum?“
Die Autorin bezieht sich dabei auf eine Untersuchung der Region New York – New Jersey von Josephine Shenouda und Kollegen (2,3).
Was ist Autismus?
Das ist die 100.000 Euro Frage, die bislang noch niemand vollständig beantworten konnte. Deshalb heißt das Erscheinungsbild auch nicht Autismus, sondern ASD = Autism Spectrum Desease, Autismus-Spektrum-Störungen. Dieselbe Fragestellung beschäftigte bereits 2011 die Autorin Karen Weintraub, deren Artikel sowohl im Nature Journal als auch in deutsch im Spektrum veröffentlicht wurde (4,5).
Was genau den Anstieg auslöst, kann nicht abschließend beantwortet werden. Zwei Faktoren sind sicher für einen Teil verantwortlich: Neue Diagnosekriterien und gestiegenes Bewusstsein.
Die erste Beschreibung des Autismus stammt von 1943. Die dort beschriebenen 11 Kinder hatten schwerwiegende Kommunikationsprobleme, Bewegungsstereotypien und litten unter akuter Kontaktunfähigkeit.
Diese erste Diagnostik wurde im Laufe der Jahrzehnte immer mehr erweitert, was einen Teil des Anstiegs erklären kann. Die amerikanische CDC (Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta) hat die Anzahl der betroffenen Kinder kontinuierlich in die Höhe steigen lassen: 1966 waren 4,5 von 10.000 Kindern mit der Diagnose ASD gemeldet, 1992 waren es bereits 19 und 2006 sogar 90 von 10.000.
Ursachen für den Anstieg von ASD
Der Anstieg lässt sich nur zum Teil mit gesteigertem Bewußtsein von der Krankheit und Ausweitung der Diagnosekriterien erklären. Weintraub: „Das Thema ist heikel. Eltern von autistischen Kindern fragen sich ständig, ob sie etwas hätten tun können, um die Erkrankung ihrer Kinder zu verhindern. Die Wissenschaftler nennen auch nur ungern mögliche Umweltfaktoren, weil dies an die schon vor langer Zeit verworfene Theorie erinnert, dass herzlose und gefühlskalte Mütter die Quelle für die Probleme der Kinder sein könnten. Der Anstieg der Prävalenz (= prozentualer Anteil der Autisten, hier auf 10.000 Kinder bezogen) hatte auch andere, inzwischen aber widerlegte Ideen gestützt, beispielsweise die Hypothese, Impfstoffe seien der Auslöser.“
Die Untersuchung von Shenouda geht sogar von einer Prävalenz von 189 (2016) auf 10.000 aus, was die Zahl von 2006 sogar mehr als verdoppeln würde.
Wichtiger als der Anstieg scheint jedoch die Suche nach den Ursachen zu sein. Seit Jahrzehnten wird das meiste Geld in die Suche nach genetischen Faktoren investiert, während die Suche nach verantwortlichen Umweltfaktoren nur eine minimale Förderung erhält, aber deshalb nicht weniger wichtig ist, denn ein Teil des Anstiegs ist sicher auf gesellschaftliche Veränderungen zurückzuführen.
So richtig erklärbar war für Weintraub der Anstieg bei ihrer Publikation in 2011 nicht, und auch Shenouda und Team stehen ein wenig ratlos vor den Zahlen. Rechnet man diese hoch, ist in den kommenden 10 Jahren eine nochmalige Verdopplung nicht unrealistisch. Allerdings entstammen die Zahlen von Weintraub bis 2006 und Shenouda aus 2016 nicht derselben Datenbasis und sind deshalb von uns vor allem zur Veranschaulichung in unser Diagramm geflossen.
Ist Autismus eine Krankheit?
„Eine höhere Aufmerksamkeit und mehr und schnellere Tests auf ASD spielen sicher eine Rolle“, sagte Prof. Dr. Walter Zahorodny, Hauptautor der Studie. „Aber die Tatsache, dass wir einen 500%-prozentigen Anstieg von Autismus bei Kindern ohne geistige Behinderungen festgestellt haben – Kinder, von denen wir wissen, dass sie durch die Maschen fallen – deutet schon darauf hin, dass auch etwas anderes den Anstieg verursacht.“ Shenoudas Einschätzung nach gibt es „möglicherweise Erklärungen für den beobachteten Anstieg“.
Mittlerweile streiten die Experten darüber, ob es sich bei Autismus überhaupt um eine Krankheit handelt, als Stichwort wurde der Begriff Neurodiversität eingeführt. Deshalb steht heute Heilung nicht mehr an erster Stelle, sondern es geht mehr um eine Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse, die Autisten haben. Wohl wahr!
Vorschläge zu einer Veränderung des Umgangs mit Autismus/Autisten
Anfang 2022 wurde in der bekannten Zeitschrift The Lancet ein Experten-Papier zum Thema Autismus veröffentlicht. Die Defizite in Diagnostik und Therapie, die geringe Unterstützung, die schlechte Lebensqualität waren Grund für diese intensive wissenschaftliche Beschäftigung (6-10). Eine internationale Kommission präsentierte in The Lancet auf mehr als 50 Seiten Vorschläge zur Abhilfe, die in 3 Begleitartikeln / Kommentaren nachdrücklich begrüßt werden. Als Ziel der Publikation wurde genannt: Aufbau einer Infrastruktur für Diagnostik, Therapie und Betreuung in jedem Land, konkrete Maßnahmen für bessere Lebens- und Entwicklungsbedingungen und weitere Studien.
Und auch die Verfasser des Papers weisen explizit darauf hin, dass Autismus keine einheitliche Erkrankung mit einfacher Diagnose ist: „Autismus ist ein unglaublich heterogenes Leiden, das nicht nur von Mensch zu Mensch stark variiert, sondern auch je nach Lebensphase. Darauf sollte die Behandlung abgestimmt sein“.
Kernaussagen zu Autismus
Wir möchten hier für Euch die Kernaussagen der Publikation in übersetzter Form (DeepL) einmal präsentieren:
- Mindestens 78 Millionen Menschen weltweit leiden an Autismus; die meisten erhalten keine Unterstützung durch oder haben keinen Zugang zu angemessenen Gesundheits-, Bildungs- und Sozialdiensten
- Kinder und Erwachsene mit Autismus können ein glückliches und gesundes Leben führen, aber es besteht dringender Handlungsbedarf, um diese Ergebnisse zu fördern
- Autismus ist ein heterogenes Phänomen und erfordert personalisierte, evidenzbasierte Beurteilungen und Interventionen, die für jeden zugänglich und erschwinglich sind und das Leben des Einzelnen und seiner Familie verbessern können.
- Menschen mit Autismus haben komplexe Bedürfnisse; die Erfüllung dieser Bedürfnisse erfordert eine staatliche Koordinierung zwischen Gesundheits-, Bildungs-, Finanz- und Sozialsektoren über die gesamte Lebensspanne hinweg sowie die aktive Einbeziehung und Beteiligung von Autisten und ihren Familien
- Eine abgestufte Versorgung und ein personalisierter Gesundheitsansatz für die Erbringung von Dienstleistungen und die Überwachung der Wirksamkeit im Laufe der Zeit bieten einen Rahmen für eine effiziente und gerechte Verteilung der Ressourcen, um die Ergebnisse zu verbessern
- Es werden dringend mehr Informationen über die wirtschaftlichen und persönlichen Folgen von Autismus benötigt, um die Argumente für staatliche und gesellschaftliche Investitionen, Maßnahmen und Unterstützung weltweit zu untermauern
- Menschen mit Autismus und Menschen mit anderen neurologischen Entwicklungsstörungen haben viele ähnliche Bedürfnisse; die Entwicklung geeigneter Versorgungssysteme für Menschen mit Autismus wird auch die Ergebnisse für Menschen mit anderen neurologischen Entwicklungsstörungen verbessern
- Die Wertschätzung von Autismus und Neurodiversität kommt der gesamten Gesellschaft zugute
- Forschung, die zu unmittelbaren Verbesserungen im Leben von Menschen mit Autismus und ihren Familien führt, sollte vorrangig gefördert werden
Dem ist eigentlich aus unserer Perspektive nichts mehr hinzuzufügen.
Grundzüge der Therapie
Die Therapiebausteine sollten nach einer Analyse der Stärken und Schwächen individuell kombiniert werden: Förderung von sprachlichen, sozialen und praktischen Fertigkeiten, Unterstützung in Schule und Ausbildung, Schulung der Angehörigen, Strukturierung von Alltag und Freizeit. 3 Kernbereiche stehen im Fokus:
- Kommunikation: Sprachentwicklung und Sprechen, pragmatisches Verständnis und non-verbale Kommunikation, wie Gestik, Mimik, Sprechmelodie, Small-Talk
- Verhalten: sich wiederholende Muster, Handlungsroutinen und motorische Stereotypien wie Schaukeln, Probleme mit Veränderungen, geringe Spontanität und Kreativität
- Wahrnehmung: Verarbeitung von Sinneseindrücken, Stichwort Reizüberflutung
Behandlung brauchen außerdem die häufigen komorbiden Störungen wie Phobien, depressive Episoden, Schlaf- und Essprobleme, Wutausbrüche, Verletzungen der eigenen Person und anderer.
Links zum Thema
- Medscape Artikel
https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4912109?src=WNL_mdplsfeat_230202_mscpedit_de&uac=154087PN&impID=5134218&faf=1#vp_2 - Publikation Shenouda et al.
https://publications.aap.org/pediatrics/article-abstract/151/2/e2022056594/190525/Prevalence-and-Disparities-in-the-Detection-of?autologincheck=redirected - Artikel zur Publikation
https://scitechdaily.com/rutgers-finds-shocking-500-increase-in-autism-in-new-york-new-jersey-region/?utm_content=cmp-true - Artikel Weintraub in Nature
https://www.nature.com/articles/479022a - Gekürzter Artikel Weintraub auf deutsch
https://www.spektrum.de/news/tendenz-steigend/1130221
- Artikel in Medscape Deutschland
https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4910745 - Bericht der Kommission in The Lancet
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)01541-5/fulltext - Artikel zum Bericht 1
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)02658-1/fulltext - Artikel zum Bericht 2
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)02735-5/fulltext - Artikel zum Bericht 3
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)02434-X/fulltext