Wie gut ein bestehendes Gesundheitssystem ist, erkennt man meist erst im direkten Vergleich mit anderen. Ebenso verhält es sich mit Verbesserungsmöglichkeiten. Die US-amerikanische Commonwealth Foundation hat die Gesundheitssysteme von 11 Industrienationen verglichen und kommt zu einem klaren Ergebnis: Deutschland liegt im guten oberen Mittelfeld, es gibt aber Nachholbedarf.
11 Nationen im Vergleich: Spitzenreiter und Schlusslicht
Auf dem Siegertreppchen stehen wenig überraschend Norwegen, dicht gefolgt von den Niederlanden und Australien. Platz 4-6 gehen an Großbritannien, Deutschland und Neuseeland. Während Schweden, Frankreich, die Schweiz und Kanada das typische Mittelfeld bilden, bilden die USA weit abgeschlagen das Schlusslicht in diesem Ranking. Wie es dazu kommt und welche Kriterien bei der Bewertung angelegt werden, klären wir im Folgenden.
Die einzelnen Bewertungsindikatoren im Ranking
Die Gesundheitssystem dieser 11 besagten Nationen wurden anhand von insgesamt über 70 Leistungskriterien untersucht. Diese sind in 5 Indikatoren zusammengefasst:
- Zugang zur Gesundheitsversorgung (access to care)
- Versorgungsprozess (care process)
- Administrative Effizienz (administrative efficiency)
- Gerechtigkeit (equility)
- Ergebnisse der Gesundheitsversorgung (health care outcomes)
Die Commonwealth Foundation verlässt sich dabei neben ihrer eigenen Erhebungen auf auf die Verwaltungsdaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sowie der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Zugang zur Gesundheitsversorgung: Das Angebot muss stimmen
Dieser Indikator beinhaltet die Frage nach der generellen Bezahlbarkeit medizinischer Leistungen, aber auch danach, wie viel Zeit vergeht, bis die entsprechende Leistung tatsächlich in Anspruch genommen werden kann.
Punktsieger sind hier klar die Niederlande, aber auch Deutschland und Norwegen liegen deutlich vorne. Allein beim Kriterium der Bezahlbarkeit hängt Großbritannien alle anderen 10 Nationen ab. Die Bürger profitieren hier flächendeckend von einer beinahe kostenlosen medizinischen Versorgung. Zuzahlungen und Eigenleistungen gibt es hier nur etwa bei Arzneimitteln.
Da verwundert es nicht, dass die USA in Sachen Zugangsmöglichkeiten auf dem letzten Platz liegen. Allzu oft ist Krankenversicherung dort Privatsache. Ein Großteil der US-Amerikaner ist demzufolge nur unzureichend oder sogar gar nicht versichert. Das gibt zu Recht Punktabzug im internationalen Vergleich.
Gerade in den führenden Industrienationen dieser Welt sollte es selbstverständlich sein, dass jeder Bürger die bestmögliche medizinische Versorgung erhält, und zwar genau dann, wenn er sie benötigt. Deutschland macht hier Boden gut, seitdem es im Jahre 2013 die sogenannte „Praxisgebühr“ (Zuzahlungen für Arztbesuche) abgeschafft hat.
Was die Primärversorgung angeht, haben Norwegen und die Niederlande neue Maßstäbe gesetzt. So müssen in den Niederlanden Allgemeinmediziner 50 Stunden pro Jahr außerhalb ihrer regulären Sprechzeiten für die Patientenbetreuung zur Verfügung stehen. Und in Norwegen wurden Fristen für die maximale Wartezeit auf einen Arzttermin, eine Behandlung im Krankenhaus oder eine psychische Betreuung sogar gesetzlich verankert.
Versorgungsprozesse: Das große Ganze
Dieser Indikator wird besonders von Präventivmedizin, intersektoraler Kommunikation und Patientenpräferenzen bestimmt. Interessanterweise schneiden die USA neben Großbritannien und Schweden sehr gut ab, was vor allem an der Prominenz von präventiven Maßnahmen wie beispielsweise Mammografien oder Grippeimpfungen liegt.
Großer Schwachpunkt aller 11 Staaten ist und bleibt die schlechte Kommunikation zwischen niedergelassenen Ärzten und den Krankenhäusern bzw. Notaufnahmen, der häuslichen Pflege oder dem Sozialdienst. Ein dynamischer Austausch zwischen Hausärzten und Spezialisten, wie er in der Schweiz, Neuseeland, Australien, Norwegen und Frankreich zu beobachten ist, bleibt zwar lobenswert, wiegt das grundlegende Problem der Kommunikation aber längst nicht auf.
Deutschland zeigt sich in Sachen Engagement und Patientenpräferenzen als Klassenbester. Anzuführen sind herbei eine effektive und vor allem respektvolle Kommunikation zwischen Arzt und Patient sowie eine strukturierte Versorgungsplanung, die auf individuelle Ziele und Wünsche der Patienten eingeht.
Verwaltungseffizienz: Bürokratie vs. Patientenwohl
In einem modernen Gesundheitssystem sollte der Zugang zu Leistungen mit möglichst wenig Zeit und Mühe kosten. Musterbeispiele wie Norwegen oder Großbritannien haben in den letzten Jahren den Bürokratieabbau im Gesundheitssystem deutlich vorangetrieben. Deutschland liegt hierbei abgeschlagen lediglich auf Platz 9. Die steifen und festgefahrenen Verwaltungsstrukturen, die sich hierzulande durch fast sämtliche öffentlichen Bereiche ziehen, komplizieren viele notwendige Schritte unnötig. Das beste medizinische Leistungsangebot bringt der Bevölkerung nur etwas, wenn diese es schnell und unkompliziert in Anspruch nehmen kann. Hier zeigt Deutschland noch deutlichen Nachholbedarf.
Gerechtigkeit: Gleiche Chancen für alle
Anhand dieses Indikators lässt sich ablesen, wie stark der Zugang zu eine adäquaten Gesundheitsversorgung vom Einkommen und dem sozialen Stand jedes Einzelnen abhängt. Die wenigsten Auffälligkeiten zeigen hierbei Australien, die Schweiz und auch Deutschland. Die Schere zwischen Arm und Reich mag hierzulande von Jahr zu Jahr weiter auseinanderklaffen, aber vor dem Gesetz – und anscheinend auch in der medizinischen Versorgung – sind nun einmal alle gleich. Zwar bestehen Unterschiede zwischen privat und gesetzlich versicherten Patienten, aber diese haben keinen Einfluss auf den generellen Zugang zu medizinischen Leistungen.
Auch auf diesem Gebiet liegen die USA mal wieder deutlich abgeschlagen auf dem letzten Platz. Wie schon beim ersten Indikator verhindert die Verschiebung auf den privaten Bereich den uneingeschränkten Zugang zu oftmals dringend benötigten medizinischen Leistungen. Darüber kann auch die bereits weiter oben angesprochene stabile Präventionsmedizin nicht hinwegtrösten.
Ergebnisse der Gesundheitsversorgung: Ein Mehrwert für die Bevölkerung
Ein effizient laufendes Gesundheitssystem muss zwangsläufig einen Mehrwert für die Bevölkerung des jeweiligen Landes erarbeiten. Dies gilt im Details besonders in Sachen Kindersterblichkeit und Lebenserwartung. Gerechnet auf jeweils 1.000 Lebensgeburten verzeichnet Norwegen als Tabellenerster lediglich 2 Todesfälle. Deutschland liegt hier etwas überraschend nur auf Platz 7 mit durchschnittlich 3,1 Todesfällen pro 1.000 Lebensgeburten.
Bei der statistischen Lebenserwartung nach Erreichen des 60. Lebensjahres liegt Deutschland mit rund 25 Jahren nur knapp hinter Spitzenreiter Australien mit 25,6 Jahren. Aber für die junge Generation muss hierzulande wohl noch einiges mehr getan werden, wie der internationale Vergleich zeigt.
Auch beim Thema der vermeidbaren Sterblichkeitsrate sind in Deutschland klare Defizite erkennbar. Während Länder wie die Schweiz, Neuseeland oder Norwegen ihre nationale Sterblichkeitsrate pro 100.000 Einwohnern in den letzten 10 Jahren um 25%, 23% bzw. 24% senken konnten, kann Deutschland hier nur mit einer Reduktion um 13% aufwarten und liegt damit auf dem vorletzten Platz.
Fazit: Wie schlägt sich Deutschland nun im direkten Vergleich?
In der Gesamtauswertung liegt Deutschland mit Platz 5 von 11 im guten oberen Mittelfeld. So viel schon einmal vorneweg. Allerdings gehört zur ganzen Wahrheit aber auch, dass unser Gesundheitssystem kein einheitliches Gesamtbild liefern kann. In einigen Punkten liegen wir vergleichsweise weit vorne, während in anderen Bereichen großer Nachholbedarf herrscht. Der Gesamtsieger Norwegen beispielsweise leistet sich diese Inhomogenität nicht und führt damit verdienterweise das Feld an.
Unverzichtbar für die Zukunft: Investitionen in Bildung und soziale Dienste
Die Autoren des obenstehenden Reports weisen in ihren Ausführungen explizit darauf hin, dass auch politische Maßnahmen abseits des allgemeinen Gesundheitssystems von entscheidender Bedeutung sein können. Investitionen in Bildung, Beschäftigung, Ernährung, Wohnen, Verkehrt und Umweltsicherheit sind ausschlaggebende Faktoren, wenn es um die Gesundheit einer Landesbevölkerung geht. Hinzu kommen Programme wie frühkindliche Förderung, Elternurlaub oder Einkommensunterstützung für Alleinerziehende und nicht zuletzt auch der Schutz von Arbeitnehmern.
Gesundheit muss weitergedacht werden als nur in den engen Grenzen der universitären Medizin und des nach außen abgeschlossenen Gesundheitssystems. Wir von A Beautiful Health unterstützen diese Denkansatz aus voller Überzeugung.
Wenn ihr konkrete Zahlen und Schaubilder zum Report der Commonwealth Foundation sucht, verweisen wir euch gerne auf den Original-Artikel hierzu unter:
https://www.commonwealthfund.org/publications/fund-reports/2021/aug/mirror-mirror-2021-reflecting-poorly#access