Plädoyers für eine Erweiterte Medizin 10 – Ausschnitt und Perspektive in der medizinischen Wissenschaft – Teil 1

Plädoyers 10 Teil 1
4.8
(5)

Volker Schrader

Wissen und Erkenntnis wurden historisch über zwei verschiedene Wege oder Methoden der Aneignung erzielt. In der griechischen, indischen, indianischen und persischen Philosophie ging es immer um die deduktive Methode, also vom Ganzen ausgehend zur Betrachtung der Teile, während seit Beginn der Neuzeit der kartesianische Dualismus den Ausgangspunkt der induktiven Methode und ihres Siegeszuges in der Wissenschaft und Medizin markiert hat. In den folgenden 2 Teilen meiner Artikelserie möchte ich näher auf diese Auswirkungen und ihre Folgen auf die Wissenschaftstheorie eingehen, weil ich der Meinung bin, dass uns der kartesianische Dualismus zwar eine immense Flut von Wissen gebracht hat, diese aber nicht mehr zusammengeführt werden kann.

Exkurs 1

Was Zentralperspektive und Individualisierung verbindet

Beide im Titel des Artikels genannten Begriffe sind zentrale Kategorien im Prozess der Wahrheitsfindung, d.h. in Philosophie und Wissenschaft.
Das Denken der Philosophen im Altertum und Mittelalter ging immer vom Ganzen aus, d.h. es verlief deduktiv. Man war überzeugt, dass man ohne eine Erklärung des Lebens, Seins und deren Sinn keinen Maßstab für die Bewertung von Erscheinungsformen oder gar dem Wunder des Lebens besitzen kann.

Hinzu kam durch die Sophisten die Fragestellung, was man überhaupt erkennen kann. Diese ontologischen und erkenntnistheoretischen (gnoseologischen) Fragestellungen beherrschten den philosophischen Diskurs bis zu den Idealisten, Materialisten und Dialektikern des 17. bis hinein ins 19. Jahrhundert.

An dieser Stelle ist es interessant, mal einen Blick in die Kunstgeschichte zu werfen, um zu erkennen, dass mit dem Entstehen der kapitalistischen Produktionsweise seit der Renaissance und der damit verbundenen stetigen Erweiterung der Arbeitsteilung und der Produktion in Manufakturen und Fabriken das beherrschende Arbeitsverhältnis nicht mehr der Besitz von Arbeitskräften, sondern der Verkauf der Arbeitskraft des Arbeiters an einen Besitzer eines Betriebes wurde, im Gegensatz zur Sklaverei und Leibeigenschaft. Dadurch entstand das Individuum als Existenzform des gesellschaftlich historischen Wesens des Menschen und damit die ganz neue Perspektive des einzelnen, des Individuums.

Diese Entwicklung beeinflusste die Visualität der Menschen und es entstand in der Renaissance die Zentralperspektive in der Malerei. Die Sicht und Perspektive des einzelnen bekam zunehmend Bedeutung. Der Kollektivismus früherer Zeiten wurde Schritt für Schritt in die Gesellschaft der Individuen überführt. Das dauerte einige Zeit, genauer gesagt einige Jahrhunderte bis zur vollständigen Durchsetzung der modernen kapitalistischen Produktion.

Giotto di Bondone (1270- 1337) war ein Visionär mit der Erfindung der Perspektive. Man erinnere sich: Davor gab es nur mit Goldhintergrund dargestellte Geschichten aus der Bibel oder die Skizzen der Höhlenmaler. Ausgereift wurde die Anwendung der Zentralperspektive dann durch Leonardo da Vinci (1452-1519), Raffaello Sanzio da Umbrino (1483-1520) und Michelangelo Buonarrotti (1475-1564) und vielen anderen Zeitgenossen der darstellenden Kunst der Renaissance.

Plädoyers 10-1

Exkurs 2

Was die materiellen Verhältnisse mit der kartesianischen Erkenntnistheorie verbindet

In der Philosophie entstand im 19. und 20. Jahrhundert das Zeitalter der Individualphilosophien.

Vorher erfolgte durch Descartes die Loslösung des Denkens und Philosophierens von der Kirche, die im Mittelalter das Bildungsmonopol besaß. Dabei ging es nicht mehr um freies Philosophieren wie im Altertum, sondern um die Interpretation der heiligen Schrift, um Fragen des christlichen Glaubens, d.h. um moralisch-ethische Fragestellungen.

Der Bruch dieses Zusammenhanges von Denken und Glauben führte zum Entstehen von weltlichen Wissensinstitutionen, den Universitäten, und den Kirchen als Institution des Glaubens.

Das war sicherlich ein Fortschritt, doch geschah hier das erste Missverständnis mit fatalen Folgen, denn es wurde mit Descartes ein zweifelhaftes Paradigma als Wahrheitsgrundsatz übernommen, nämlich der Dualismus als nun ontologisches Prinzip (res cogitans und res extensae oder die Trennung von Geist und Materie).

Weiter stand das Wissen nicht mehr im Dienste einer moralischen Institution. Unabhängig davon, dass wir inzwischen wissen, dass viele Mitarbeiter dieser Kirche alles andere als moralische Vorbilder waren und sind, bleibt die Kirche eine moralische Institution. Die neuen Dienstherren der Wissenschaft waren Kapitalgesellschaften in den Diensten eines explosiv sich entwickelnden neuen Wirtschaftssystems, des Kapitalismus und in Folge der industriellen Revolution eines sich parallel dazu stürmisch entwickelnden Produktionsprozesses.

Das heißt, dass die Wissenschaften sich immer mehr differenzierten und voneinander trennten in zahlreiche Fachbereiche und Fakultäten. Alles unter dem Dogma des Dualismus, d.h. einer verheerenden Klitterung und Zersplitterung des Wissens und seiner Gegenstände.

Die Probleme der Zersplitterung von Wissenschaft

Das wiederum hatte zur Folge, dass die wissenschaftlichen Gegenstände der Untersuchung und Forschung immer kleiner erfasst wurden, so dass Erkenntnisse aus den Fachbereichen nicht mehr ausgetauscht und synergetisiert wurden.  Analog dazu wurden die wissenschaftlichen Gegenstände auf Objekte reduziert und die Fragestellungen verkürzt – der Mensch als Maschine beispielsweise -, weil Erkenntnisgewinn über Prozesse keine Rolle spielte. Die Ergebnisse aus diesen Reduktionen der streng induktiven bzw. empirischen Forschung sind seit diesem Zeitpunkt sehr verzerrt.

Mit einer solchen Wissenschaft kann man Maschinen, Kriegsgeräte und Autos bauen, aber keine Fragen des Lebens beantworten.

Es ist bekannt, dass Bakterien in einem weltweiten Netzwerk miteinander verbunden sind und gleichzeitig in Kapstadt wie Oslo ihr genetisches Potential verändern. Peter Wohlleben hat uns über den Zusammenhang des Lebens in einem Wald aufgeklärt. Es ist bekannt, dass das Einflussnehmen auf das Wetter auf einem Ort der Erde globale Auswirkungen hat, die nicht nur das Wetter betreffen, sondern die Lebens- und Produktionsqualität vehement beeinflussen. Jeder von uns hat bereits vom Butterfly Effekt gehört, dessen Erklärung auf die Chaostheorie in der Mathematik zurückzuführen ist. Hungersnöte, Wetterkatastrophen sind die Folgen. Das hat der Club of Rome bereits in den 70ern des vorigen Jahrhunderts erkannt und verbreitet. Die Universitätswissenschaft hat das nicht interessiert und seitdem man es anerkennen musste, versucht man das globale Problem regional zu lösen. Geht’s noch verrückter von Seiten der Wissenschaft?

Dass die Auftraggeber dieser Wissenschaft das nicht interessiert, ist ja noch verständlich. Dafür hat man das Marketing erfunden, um Lügen, die fortlaufende Rendite garantieren sollen, zu verkleistern. Aber die Wissenschaftler selbst haben sich dadurch – Verzeihung für diese mehr als drastische Formulierung – zu Huren des Kapitals degradieren lassen. Die Kunst spielte diese Rolle immer schon. Früher durch Zwang mit Androhung des Scheiterhaufens bei Widerstand. Heute buckelt die große Schar der Kunstszene hinter den Superreichen her und wird mit Schampus verseucht.

Plädoyers 10 1B

Über die Psyche als Wissenschaft von Verhältnissen

Um die Auswirkung der Gegenstandsverkürzung, im Titel des Artikels als Ausschnitt bezeichnet, zu illustrieren, fangen wir mit dem Begriff der Psyche an. Was soll das sein? Was ist das? Man kann es nicht sehen und anfassen. Und die Seele ist auch noch nicht gefunden worden. Ach ja richtig: die Nerven, das Rückenmark und das Gehirn, neuerdings auch der Darm. Aber da sind wir unversehens in die Neurologie gerutscht. Das berechtigt eben nicht, der Psychologie einen eigenen Gegenstand zuzuweisen. Auch die Funktionen der Sinne basieren auf physiologischen Prozessen. Dann gibt es noch die Lerntheorie, die Funktion des Gedächtnisses. Okay, könnte die Psyche betreffen, wenn da nicht die neuronalen Muster wären, die Neurotransmitter und Synapsen, die durch Reize angetriggert werden.

Emotionen, Sprache, Träume, Denken, Bewusstsein, Erkennen, Wahrnehmen, Persönlichkeit, Individualitätsformen: Hier sind wir schon psychisch unterwegs. Aber nichts würde in diesem Zusammenhang existieren und funktionieren ohne materielles Substrat, soziale Verhältnisse, Interaktion, Kommunikation, kulturelle Faktoren, sozialen Status, einem physiologischen Stoffwechsel und genetischem Potential.

Die Psychologie muss also eine Wissenschaft von Verhältnissen sein. Sie hat keinen isolierten Gegenstand. Das gleiche muss folgerichtig dann erst recht für die Anthropologie bzw. Medizin gelten, da die Psyche ein in diesem System implizierter bzw. konstitutiver Gegenstand ist. Der physikalische, soziale und kulturelle (Life Style) Stoffwechsel sind entscheidende Faktoren bei der Entstehung von Krankheiten onto- wie phylogenetisch. Gerade die Zivilisationskrankheiten bzw. die chronischen Erkrankungen sind nicht ursächlich gegenstandsbezogen, sondern durch Verhältnisse erzeugt, sie entstehen in vielfältigen systemischen Zusammenhängen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass diese Dispositionen bedingt vererbbar sind. Zivilisation läuft ja auch schon einige Zeit.

Vergegenständlichen wir uns noch einmal: Ausschließlich induktives Vorgehen läuft Gefahr, den wissenschaftlichen Gegenstand zu verkürzen. In Kombination mit einem dualistischen Weltbild wird diese Gefahr erhöht. Wissenschaft im Dienst der Kapitalakkumulation verzerrt fast alle Ergebnisse wissenschaftlichen Forschens und muss wegen ihrer Interessengebundenheit auf Ganzheitlichkeit verzichten. Ihr pragmatischer Nutzen für das Funktionieren der Zivilgesellschaft verzerrt die Ergebnisse zudem im Sinne politischer Ambitionen. Das macht das Corona Virus mehr als deutlich.

Empirische Forschung krankt an verkürzter Fragestellung und reduzierten Gegenständen der Forschung, weil unsere Wissenschaftler über die übergeordneten Paradigmen und Axiome gar nichts wissen. Sie setzen ihre Methodik als selbstverständlich ein, ohne jemals eine Alternative präsentiert bekommen zu haben. Sie sind Schaulustige, die noch niemals einen Elefanten zu Gesicht bekommen haben, aber die ganze Zeit so tun, als wüßten Sie, wie ein Elefant aussieht.

 

Ende des 1. Teils, in dem es darum ging, was wir durch eine falsche oder verzerrte Methodik an Erkenntnissen verlieren. Im zweiten Teil geht es darum, welche Wahrnehmungsverzerrungen uns hindern, erweiterte Medizin zu betreiben.

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Ein Kommentar zu „Plädoyers für eine Erweiterte Medizin 10 – Ausschnitt und Perspektive in der medizinischen Wissenschaft – Teil 1“

  1. Ich habe schon mehrere interessante Artikel hier auf Eurem Blog gelesen und finde vor allem gut, dass Ihr auch oft eine eigene Position einnehmt. Der Blog und natürlich auch der Artikel von Volker Schrader sind unbedingt zur weitergehenden Lektüre zu empfehlen.

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